Drei Dinge, die wir ganz besonders an Rödelheim, unserem
Frankfurter Stadtteil vermissen: Unsere Freunde und Nachbarn, das Parkfest im
Sommer und die Rödelheimer Musiknacht. Die letzten Jahren haben wir sie immer
begleitet, im Blog www.roedelheimer.de,
und natürlich auch live. Nun, am Samstag, war sie wieder. Und wir waren nicht
da. Mist. Doch wie es der Zufall so will, kamen wir trotzdem zu unserer Portion
Live-Musik.
Das Ereignis hatte sich schon vor Tagen angekündigt. Im
Aufzug war ein Aushang. Clever eigentlich, denn den Aufzug benutzt jeder
täglich ein paar Mal. 30 Sekunden Zeit in sich zu gehen, nutzlos in der Gegend
rumzustarren oder in der Nase zu Bohren. Letzteres lässt man wieder ganz
schnell bleiben, weil einem nach circa 4 Sekunden auffällt, dass die Kiste ja
videoüberwacht ist. Wahrscheinlich lachen sich die Porteiros regelmäßig schlapp
und haben längst jedem Bewohner anhand seines ganz persönlichen Fahrstuhlticks
einen Spitznamen verpasst.
Kommt man dann zum Ausgang, man braucht vielleicht 15
Sekunden vom Aufzug bis dorthin geht es bestimmt meistens so: „Achtung, Achtung
– Mensch! Hör auf zu lachen. Er ist gleich hier!“
„Gnii-hihi-rmpfff – Aber der hat – huhuhhuaaaa – haste nicht
gesehen?“
„Schnautze, ich hör ihn schon!“
„Pfffnuuhu-hihi – ist gut ich reiß mich zusa….. Oh, Bom Dia,
tudo bem?“
Und schon ist man vorbei.
Vielleicht sitzen sie auch einfach stumpf hinter ihrem
Tresen uns starren leer auf den Monitor mit seinen 35 briefmarkengroßen,
schlecht aufgelösten, ruckeligen Kamarastreams.
In einem der beiden Aufzüge ist ein Aushangfenster. Darin
werden Neuerungen der Hausordnung bekanntgegeben, oder Veranstaltungen im Haus.
So wies dort ein Plakat auf einen Musikabend hin. Die Band „Piazzas“ oder
„Pinzzns“ – so genau kann man das in nicht lesen, seltsame Type, die die
gewählt haben – würde am Samstag ab 18 Uhr im „Play“ zum Tanze aufspielen.
Jeder der möge, sei dazu herzlich eingeladen.
Der „Play“ ist das Zwischengeschoss, eine Art Hof. Hier ist
der Pool zu finden, auch eine Art Poolbar gibt es dort. Meist langweilen sich
die Leute hinter dem Tresen dort dermaßen, weil den ganzen Tag niemand bei
ihnen vorbeischaut, dass ihnen vermutlich diese Idee gekommen sein dürfte. Warum
auch nicht? Ella war auch ganz wild auf das Konzert. Ihr erstes war übrigens,
vor einigen Jahren, man ahnt es, die Rödelheimer Musiknacht.
Die ersten drei Lieder verpassten wir. Die Pizza war im
Ofen, der Ofen ging ständig aus. Die Eröffnung klang schon irgendwie
vielversprechend zum Balkon herauf. Klar, es handelte sich um eine Cover-Band.
Aber Lied 2 war dann schon eines, dass ich ewig nicht mehr gehört hatte und von
eine Band gleich noch nie: „Suedehead“ von Morrissey. Es muss 20 Jahre her
sein, seit ich das Lied zum letzten Mal hörte. Aber ich konnte noch fast den
ganzen Text.
Zum vierten Lied fuhr ich mit Ella und Edgar hinunter. Die
Aufzugtür öffnet sich und wir stehen neben der Band. Ein aufrechter Daumen an
den Gitarristen, der uns freundlich zuzwinkert. Es war zu sehen: Die Band mühte
sich redlich, die 20-25 Zuhörer in Feierlaune zu spielen. Doch die standen in
gebührendem Abstand nahe der Theke. Wir fanden so gleich ein Plätzchen an der
Bühne. Es folgte die Reggae-Sektion.
Nach vier Liedern wieder hoch. Schnell die inzwischen
fertige Pizza einatmen und alle Mann wieder runter. Ella hatte eigentlich schon
genug. Sie sei müde, ging aber trotzdem mit. Wir kamen pünktlich zu den letzten
Takten vor der Pause unten an.
Erstmal was trinken. 10 Reais kostet ein Caipirinha, kann
man nicht meckern, schmeckt sogar ganz gut!
Nach der Pause noch ein paar echte Perlen der 80er: „Boys
don’t cry“ von the Cure genauso wie ein Stück der Pretenders. Richtig ab gehen
die Zuschauer aber erst, als die Band ein paar brasilianische Evergreens
anstimmte. Plötzlich ist vor der Band die Tanzfläche gerammelt voll und jeder,
wirklich jeder schmettert die Lieder von der ersten bis zur letzten Silbe
lauthals und vergnügt mit. Keine Scham, keine vornehme Zurückhaltung – alle geben
100% alles.
Das ist eine Sache, die man an den Brasilianern wirklich
bewundern kann. Die Fähigkeit zu feiern, ohne Taktiererei, man könnte sich
möglicherweise vor anderen zum Affen machen. Spielt hier überhaupt keine Rolle.
Interessant auch zu sehen: Neulich beim Freilufttanz mit Latinoklängen im
Parque das Ruinas war binnen Sekunden die Tanzfläche rappelvoll. Und es gab
wirklich keinen, bei dem das irgendwie ungelenk oder schräg aussah. Dort lernte
ich: Beim Sambatanzen hat der Brasilianer natürliche Eleganz und Grazie. Ganz
egal ob Strandschönheit oder Brummer. Samba ist kein Privileg der Reichen.
Schönen. Jungen. Samba gehört allen Brasilianern gleichermaßen. Und ich hatte
auf einmal das Gefühl: würdest Du jetzt hiermitmachen, Du würdest sofort auffallen.
Als hüftsteifer Gringo.
Beim Konzert ist es anders. Zu Rockmusik spacken die
Brasilianer genauso ungelenk über die Bühne mit Luftgitarre und Playbackgesang
wie bei jeder Kirmes- oder Schützenfestdisko in Deutschland auch. Aber kein
Wunder, dass der letzte Block aus rein brasilianischen Liedern besteht. Die wir
natürlich noch nie gehört haben.
„Wir müssen mal nach der Liederliste fragen“, sagte Wiebke. „Ich
möchte das auch können.“ Wahrscheinlich
geht es uns so, wie es jedem Brasilianer umgekehrt ergehen würde, käme er zum
ersten mal auf eine deutsche Schlagerparty – bei der, zu später Stunde, alle
mitsingen.
Wie groß mag der Kanon an Liedgut sein, der ein solches
kollektives Abfeiern ermöglicht? 500, 1000 oder2000 Lieder, die jeder von klein
auf mehr oder weniger unbewusst kennenlernte; hörte – im Radio, auf Feiern, in
Werbejingles – die sich so in das kollektive Gedächtnis einbrannten. Manchmal
braucht es genau einen Ton und 500 Menschen im Saal legen den Schalter um und
gehen ab. Hier also fast dasselbe. Allerdings hatte ich den Eindruck, dass dies
etwas generationenübergreifender war als sonst.
Um 22 Uhr war Schluss. Nachtruhe. Das Musikexperiment des
Barpächters war sicher geglückt, hin und wieder ähnliche Veranstaltungen wären
nett. Auch wenn die Musiknacht noch eine Ecke netter ist.
Weitere Alltagsabenteuer und Nachrichten aus Brasilien findet Ihr auf www.hallorio.de.
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